Erasmus-Berichtspflicht: Fuck you

Die ganz alten Kühe unter euch können sich sicher daran erinnern, dass ich mal nach Holland ausgewandert bin und das mit einem gesunden Maß an Hysterie zelebriert habe.

War ja eigentlich nur ein Auslandssemester im Erasmus-Programm. Erasmus kennt man in Darmstadt quasi noch von früher, wenn man montagabends mal im Schlosskeller gelandet ist und plötzlich alle 20 Jahre alt waren und Spanisch gesprochen haben. Das Image des Erasmus-Semesters, das aus bisschen Uni und richtig viel Feiern besteht, hat natürlich auch mich angesprochen. Leider hab ich das schon drei Jahre zuvor in Darmstadt so praktiziert und musste echt was für meinen Abschluss machen.
Damit aber nicht genug. Als zum Chaotismus neigende Verpeilerin wurde ich leider auch von den vielen Formalia überrollt. Dass ich stets zu spät von benötigten Unterschriften, Anträgen und einzuhaltenden Fristen erfahren habe, hat mir dann noch den Rest gegeben. Ich war eigentlich schon vor Abreise über Monate ständig nassgeschwitzt und hatte nervösen Durchfall.

Letzten Endes hab ich das Semester in der niederländischen Provinz erfolgreich absolviert und wollte dann wieder zurück zur Normalität kommen. Aber ich hab die Rechnung ohne das Erasmus-Büro der TU Darmstadt gemacht. Alle Austauschstudierenden müssen einen Erfahrungsbericht abgeben. Drei Seiten entlang einer vorgegebenen Gliederung. Die werden online gestellt damit man sich über die Partneruni informieren kann.
Diese Erfahrungsberichte sind immer der gleiche Rotz aus "Ich habe Freunde gefunden und tolle Erfahrungen gemacht". Egal von wem und egal wo die Person war. Absolut nicht hilfreich. Langweilig, austauschbar, realitätsfern!

Deshalb habe ich mich entschieden, einen etwas anderen Erfahrungsbericht zu schreiben, der wirklich weiter helfen soll. Auch nach nun fast zwei Jahren wurde er nicht auf der Webseite der Uni veröffentlicht. Warum das so ist, könnt ihr euch sicher schon denken.

Um dieses Schriftstück mit historischer Bedeutung dennoch der Welt zugänglich zu machen, veröffentliche ich es nun einfach hier.
Viel Vergnügen!

 

Erfahrungsbericht Erasmus-Semester an der Radboud Universiteit Nijmegen (Niederlande)

Überlegungen vor dem Auslandsaufenthalt: Bedenke, dass du nach deinem Erasmus-Semester angehalten bist, einen mindestens 3-seitigen Bericht zu schreiben. Egal ob du Bock hast oder nicht.

 

1. Vorbereitung vor dem Auslandsaufenthalt


Ich bin absolut die falsche Person um irgendwelche hilfreichen Tipps zu geben, wie man sich nun am besten auf ein Auslandssemester vorbereitet. Meine Entscheidung, ein Erasmus-Semester zu machen war sehr spontan, ich habe kaum Informationen eingeholt und es ist unheimlich viel schief gegangen. Der wertvollste Tipp deshalb: Mach es anders als ich.

1.1 Bewerbung
Mein größter Fehler war, dass ich die Informationen auf der Webseite der TU Darmstadt nicht aufmerksam gelesen und ich mich auf nicht besonders vollständige Dokumente des Auslandsbüros meines Fachbereichs gestützt habe. Dies hatte zur Folge, dass man mir 6 Wochen nach Einreichung meiner Bewerbung mitteilte, dass ich die Bewerbungsfrist um mehrere Monate (mein persönlicher Rekord) versäumt hatte und ich also erst ein Jahr später ins Ausland gehen kann.

Ich habe daraufhin entschieden, dass ich kein Erasmus-Semester machen möchte, dies aber dem Auslandsbüro nicht mitgeteilt. Deshalb stand ich ein Jahr später überraschenderweise doch auf der Nominiertenliste und sollte mich bei der aufnehmenden Universität formell bewerben. Da ich unbedingt in die Niederlande wollte und es keine Partneruniversität in Amsterdam oder anderen coolen Städten gab, hatte ich mich für Groningen, Eindhoven und Nijmegen beworben. Nijmegen war meine Drittwahl, ich habe von diesem Ort nie etwas gehört, die Stadt ist so groß wie Darmstadt und so nah an der deutschen Grenze, dass man kaum von einem Auslandssemester sprechen wollte.

Ich wurde in Nijmegen angenommen. Ich war trotzig und wollte nicht. In der Nacht vor Bewerbungsschluss habe ich dann mal wieder spontan entschieden und mich doch dort beworben.


1.2 Wohnungssuche und Papierkram
Dann habe ich mein Leben weiter gelebt und viel zu spät daran gedacht, den ganzen Papierkram und die Frage nach einer Unterkunft in den Niederlanden zu klären. Ich habe oft geschwitzt und manchmal wurde mir deshalb ein wenig schlecht.
Pro-Tip: Mach den Kram halt sofort. Es bringt nix zu warten. Außer du magst Nervenkitzel und willst, dass was schief läuft. Dann mach es so wie ich. Echt aufregend.
Mir wurde übrigens überraschend von der niederländischen Uni mitgeteilt, dass die ein Zimmer für mich haben. Einfach so. War echt praktisch. Das hat mich motiviert, richtig eigeninitiativ zu werden und mich sogar für die Orientierungswoche anzumelden.

1.3 Sprachkurs
Einen Sprachkurs musste ich nämlich nicht machen; in den Niederlanden sprechen alle besser Englisch als ich Deutsch. Man kann für richtig viel Geld einen Niederländischkurs machen. Der ist an der TU Darmstadt aber gratis und genauso gut. Den Rest lernt man dann auf der Straße, im Supermarkt oder im Bett. Oder man lernt es gar nicht, weil man nur mit Erasmusleuten abhängt. Deine Entscheidung.

2. Anreise und Einzug


Nijmegen ist – wie gesagt – sehr nah an der Grenze. Man kann also mit zwei großen Koffern mit dem ICE bis Arnheim fahren und dann noch eine Station weiter nach Nijmegen kommen. Oder du lässt dich einfach von Freund_innen hin bringen. In einem Auto das bis oben hin voll ist mit deinem ganzen Kram. Inklusive Kaffeemaschine. Die Freund_innen helfen dann sicher auch beim Kisten tragen. Das Studierendenwohnheim hat Starterpakete mit Bettzeug und Küchenutensilien angeboten. Jeweils für knapp 50€. Tu es nicht! Jede Küche ist mit genug Kram aus Generationen von Erasmusaufenthalten angefüllt (nun auch mit meinem) und Bettzeug kriegt man besser und billiger im Kaufhaus oder Second Hand Shop ('Het Goed' in der Innenstadt).

3. Die ersten Tage


Ist man in der Orientierungswoche angemeldet, dann ist man von morgens bis abends mit Orientierungs-Aktivitäten und freunschaftlichem Trinken beschäftigt. Zwischendurch bitte immer auch mal Formalitäten regeln.

 

3.1 Einschreibung
Die Einschreibung an der Radboud Uni war voll durchorganisiert, selbst für mich echt easy und als Inhalt dieses Erfahrungsberichtes total langweilig. Viel interessanter: die Orientierungswoche. Man bezahlt 60 Euro und weiß hinterher nicht wofür die gebraucht wurden. Aber: man lernt 15 Menschen aus verschiedenen Ländern kennen, alle aus anderen Fachbereichen und alle wohnen in verschiedenen Gebäuden über die Stadt verteilt. Das heißt, man verbringt die erste Woche immer mit dieser Gruppe, sucht sich da dann die coolen Leute raus mit denen man auch in Zukunft was zu tun haben will und bei den anderen weiß man zumindest, dass man immer jemanden zum Grüßen hat, egal wo man ist. Und das für nur 60 Tacken!

3.2 Wohnen
Auch mit Mitbewohner_innen kann man sich anfreunden. Je nach Wohnheim hat man 3 bis 15 davon. Man teilt sich eine Küche und eine begrenzte Anzahl Toiletten. Ich habe mit 8 Leuten und einem Hund zusammen gewohnt wir wir hatten alle jeweils eine eigene Dusche. Dafür war dann aber auch die Miete höher (400€) und man hat so richtig weit außerhalb gewohnt. Richtig weit. Man gewöhnt sich schnell daran, das letzte Bier lieber doch nicht mehr zu trinken, wenn man noch eine halbe Stunde nach Hause fahren muss. Fahren heißt: Fahrradfahren. Fahrradkauf ist Teil der Orientierungswoche. Man muss ein Fahrrad kaufen oder man wird arm (Bus ist schweineteuer, Taxi ist nicht bezahlbar). Alles dreht sich auch immer um dieses Fahrrad fahren. Wenn man das hasst, sollte man es sich echt noch mal überlegen mit den Niederlanden.

4. Studium


Wer wenig machen und dafür eine 1+ mit Sternchen bekommen will, sollte nicht in die Niederlande gehen.

4.1 Kurswahl
Kurse wählt man schon in Darmstadt, lässt sich das von allen möglichen Leuten unterschreiben, schickt es zur Partneruni, die unterschreiben das auch alle und schicken es zurück, damit man es einreichen kann. Nach der Ankunft erfährt man dann, dass die Hälfte der Kurse sich überschneidet, nicht stattfindet oder einfach Schrott ist, ändert das Formular und lässt es wieder von 100 Leuten in zwei Ländern unterschreiben. Das nervt, ist aber vergessen sobald man es hinter sich hat.

4.2 Voranerkennung von Leistungen
So und jetzt schwitze ich wieder: ich soll etwas zur 'Voranerkennung von Leistungen' sagen. Ich wusste nicht, dass man Leistungen voranerkennen lassen muss. Schade für mich. Keine Ahnung ob und was anerkannt wird. Sollte man wohl wirklich vorher klären... Verdammt.

4.3 Inhalte und Ablauf der Lehrveranstaltungen
Ich habe verschiedene Veranstaltungen in den Bereichen Sozial-, Rechts- und Kulturwissenschaften besucht und erfolgreich abgeschlossen. Die Anforderungen an Studierende sind insgesamt hart. Man muss super viel machen; Studierende in den Niederlanden brechen regelmäßig unter dem Druck zusammen. Ich hab das mehr so als Challenge betrachtet um mir selbst etwas zu beweisen und in diesem einen Semester mehr geleistet als je zuvor. Und dabei auch unheimlich viel gelernt. Ein Großteil der angebotenen Soziologie-Veranstaltungen an der katholischen Radboud Uni drehte sich um Sex. Wahrscheinlich wäre ich bei Wissensoziologie weniger engagiert gewesen.
Pro-Tip: Es gibt Veranstaltungen die extra für Erasmus-Studierende angeboten werden. Niveau und Anforderungen sind niedriger und man bekommt mehr Punkte.

4.4 Prüfungen
Die Prüfungen sind hart aber machbar. Auch hier empfiehlt es sich, auf Erasmus-Kurse zu setzen. Aber selbst bei denen kann man sich nicht zurücklehnen. Das Niveau in den Niederlanden ist sehr hoch und die lassen einen auch durchfallen wenn es sein muss.

4.5 Endgültige Anerkennung an der TU Darmstadt
Ja... Ich habe keinen Plan und auch ein bisschen Angst.

5. Freizeitaktivitäten


Wer Hobbys hat wird diese auch in den Niederlanden gut realisieren können. Außer Bergsteigen.

5.1 Stadt
Nijmegen bietet super viele Möglichkeiten zum Fahrradfahren. Ich habe mich – wie zuhause – einfach mit Freunden getroffen. Am Fluß ist ein netter Strand, ständig gibt es irgendwelche großen und kleinen Straßenfeste und Festivals. Man findet von April bis Oktober genug Gelegenheiten was cooles zu unternehmen. Ansonsten fährt man mit der Bahn innerhalb von 1,5 Stunden nach Amsterdam.
Das Nachtleben in Nijmegen ist gewöhnungsbedürftig, aber bietet mehr als Darmstadt. Super viele Bars mit super vielen, super jungen Menschen drin. Die Musik ist abwechselnd NL-Schlager und Techno. Aber man gewöhnt sich an alles. Bier in den Niederlanden ist wie der Rest extrem teuer.

5.2 Sehenswürdigkeiten
In der Orientierungswoche wird man zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt Nijmegen geführt. Hierzu gehören drei Metallbrücken, eine Schlossruine und ein Marktplatz. Also nicht so ganz der Wahnsinn, aber man kann sich in den Niederlanden ja insgesamt viel angucken. Steht alles viel besser in Reiseführern als ich das jetzt beschreiben könnte.

5.3 Reiseziele
Man ist von Nijmegen aus am allerschnellsten in Deutschland. Die größeren niederländischen Städte sind alle etwa 1,5 Stunden Zugfahrt entfernt. Um beim Herumreisen nicht komplett zu verarmen, gibt es einige Möglichkeiten. Entweder man fährt mit Freund_innen die jemanden mit 40% Rabatt mitnehmen können. Das geht nur für Studierende aus NL und den ehemaligen Kolonien. Oder man bucht ein Gruppenticket mit anderen Erasmusleuten. Da kommt man teilweise für 7 Euro (statt 40 Euro) nach Amsterdam und zurück. Ansonsten bieten Drogerien und Kaufhäuser manchmal sehr günstig Tagestickets für die Bahn an.

6. Finanzierung


Ich habe absolut keine Ahnung, wie ich das alles hätte bezahlen sollen ohne Ersparnisse und Arbeiten während des Auslandssemesters. Die Erasmusförderung beträgt monatlich 160 Euro. Damit kann man sich 1,5 Wochen Miete im Wohnheim leisten. Ich kann nur sagen: Spar vorher Geld, überrede deine Eltern oder eine vergreiste Nachbarin deine Miete zu bezahlen, mach das Jahr vorher Überstunden oder lass dich von einem reichen Gönner aushalten. Du musst und willst Geld ausgeben und wenn du dich da nicht vorher drum kümmerst ist es halt kacke

7. Wichtige Hinweise


Dieser Abschnitt ist nun anscheinend dem gewidmet, was ich selbst für erwähnenswert halte. Gut.

7.1 Liebe, Sex und Zärtlichkeit
Ein Erasmus-Semester ist wie eine Klassenfahrt. Alles läuft im Zeitraffer. So schnell wie man Freund_innen findet, findet man auch jemanden für mehr. Niederländische Männer haben viel Gel in den Haaren. Es ist furchtbar. Auch ansonsten würde sagen, 95% von den Männern sind nix, aber die restlichen 5% sind Granaten. Mittelmaß gibt es nicht. Bei den Frauen ist das Verhältnis umgedreht: Die meisten sind wunderschön und eine ganz kleine Gruppe sieht genauso aus wie die Jungs. Tja. Aber es gibt ja auch noch die anderen internationalen Studierenden die was erleben wollen...
Ich habe gestern noch eine Statistik gesehen, nach der deutsche Studierende im Ausland mehr verschiedene Sexualpartner_innen haben als in einem Semester an ihrer Heimatuni. Aber ganz ehrlich: Wenn du zuhause niemanden abkriegst, dann wird das auch im Ausland nicht besser.
Pro-Tip: Ich habe viele Beziehungen entstehen sehen zwischen Leuten die sich ganz schlimm verliebt haben und dann wieder auseinander gehen mussten. Herzschmerz ist mies und Fernbeziehungen sind nicht einfach. Mach es dir nicht unnötig schwer.

7.2 Freundschaften
Egal wie antisozial du bist: Du lernst Leute kennen, die du magst. Und ein Semester ist verdammt schnell vorbei. Ihr habt nicht ewig Zeit zusammen. Nutze sie.  Allein im Bett liegen und Serien gucken kannst du auch noch in 50 Jahren.

7.3 Harte Fakten
Nijmegen ist groß genug um es da gut auszuhalten, es gibt viele Studierende und auch viele Ausländer_innen. Darunter auch unheimlich viele Deutsche. Es gibt alternative Szenebars. Man kann gut einkaufen. In den Niederlanden ist alles teuer, bis auf Handyverträge. Niederländisch lernen ist sehr einfach, aber nicht notwendig. Dein Englisch verbessert sich ungemein, außer du hängst nur mit Deutschen rum. Erstis in den Niederlanden sind 17 Jahre alt. Wenn du schon 25 bist, gehörtst du zu den Alten. Es regnet unheimlich oft. Bars haben lange auf, aber nach 4 Uhr darf man nicht mehr rein.

8. Fazit


Ein Semester in den Nijmegen war toll und viel zu schnell vorbei. Ich kann jeder_jedem empfehlen, das auch zu machen.

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